Obdach- und wohnungslose junge Erwachsene: unterschiedliche Profile, komplizierte Hintergründe
Von den 6.286 Personen, die bei den Zählungen Ende 2020 und Ende 2021 in neun Städten und Regionen des Landes als obdach- und wohnungslos ermittelt wurden, waren 1.208 zwischen 18 und 25 Jahre alt - also fast jeder fünfte Erwachsene. Ihre Lage ist das Ergebnis einer Verknüpfung aus negativen Ereignissen und Mechanismen der sozialen Ausgrenzung. Prävention, ein maßgeschneiderter Ansatz sowie angemessene Lösungen für Unterbringung und Begleitung sind Hebel, die es zu nutzen gilt. Dies sind die wichtigsten Ergebnisse einer Studie der UGent, der KU Löwen und der UCLouvain, die auf Initiative der König-Baudouin-Stiftung durchgeführt wurde.
Für eine effiziente Bekämpfung von Obdach- und Wohnungslosigkeit bedarf es deutlicher, zuverlässiger und vergleichbarer Daten. Deswegen engagiert sich die König-Baudouin-Stiftung seit 2020 gemeinsam mit Forschungsteams, um die regelmäßige und einheitliche Durchführung von Zählungen in Wallonien und Flandern zu fördern. Im diesem Rahmen wurden in den Städten Arlon, Charleroi, Gent, Löwen, Namur und Lüttich, in der Provinz Limburg, im Süden Westflanderns und in der Region Vilvoorde bislang Daten sowohl zum Ausmaß des Phänomens als auch zum Profil der Betroffenen erhoben.
In Kombination mit qualitativen Studien ermöglichen die erhobenen Daten auch die genauere Betrachtung der einzelnen Betroffenengruppen, wie zum Beispiel obdach- und wohnungslose junge Erwachsene. Auf Wunsch der KBS haben sich die Forschungsteams der Gruppe 'Sozialarbeit und Sozialpädagogik' (UGent), von LUCAS (KU Löwen) und CIRTES (UCLouvain) tiefgehender mit den Daten zu diesen obdach- und wohnungslosen jungen Mitmenschen beschäftigt. Die Forschenden haben außerdem Gespräche mit den Betroffenen und den Fachkräften vor Ort geführt.
Die verschiedenen Profile
Von den 6.286 Personen, die bei den Zählungen Ende 2020 und Ende 2021 obdachlos und wohnungslos waren, waren 1.208 zwischen 18 und 25 Jahre alt- also fast jeder fünfte Erwachsene. Diese jungen Erwachsenen weisen besondere Profilmerkmale auf:
- 38,9% der betroffenen jungen Mitmenschen sind Frauen (im Vergleich zu 29,4% bei den über 26-Jährigen).
- 51,6% beziehen ein Eingliederungseinkommen (im Vergleich zu 34,5% bei den über 26-Jährigen).
- 45,9% leben in einer „versteckten“ Obdachlosigkeit (im Vergleich zu 30,8% bei den über 26-Jährigen): Sie sind gezwungen, bei Freunden oder Familienmitgliedern zu schlafen. Die jungen Erwachsenen, denen wir an öffentlich zugänglichen Plätzen begegnen, sind also nur die Spitze des Eisberg.
- 37,4% erklärten ihre Wohnsituation mit Konflikten mit der Familie oder Freunden (gegenüber 12,3% bei den über 26-Jährigen).
- Diese jungen Obdach- und Wohnungslosen bilden eine sehr heterogene Gruppe. Es wird zwischen drei Profiltypen unterschieden: Junge Erwachsene, die aus einer Jugendhilfeeinrichtung kommen (24,2%), Belgier und Belgierinnen ohne vorherige Aufenthalte in den verschiedenen Einrichtungen (29,4%) und Erstankömmlinge (30,4%). Ein Vergleich ergibt, dass bestimmte Wohnsituationen und Profile bei jeder dieser Gruppen stärker ausgeprägt sind.
Ursachen
- Die Lage junger Erwachsener, die von Obdach- oder Wohnungslosigkeit betroffen sind, ist auf eine Reihe negativer Ereignisse (Gewalt, Sucht, in Armut lebende Eltern, traumatische Migrationsgeschichte...) zurückzuführen, die dann in Verbindung mit strukturellen Mechanismen der sozialen Ausgrenzung (unzugängliche Wohnungen, strukturelle Armut, Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Bildungswesen...) zu sehen sind.
- Neben den Konflikten mit Familie oder Freunden (37,4%), kann ihre Lage auch durch folgende Ursachen erklärt werden: Beziehungsprobleme (15%), Migration (11,2%), Zwangsräumungen (10,4%), psychische Störungen(10,2%).
- Die Berichte der jungen Erwachsenen und ihrer Begleitpersonen zeigen, dass direkte Zusammenhänge nur schwer identifiziert werden können und dass es sich um komplexe, instabile und von Gewalt geprägte Lebensläufe handelt.
Bedürfnisse
Die jungen Erwachsenen und die Fachkräfte vor Ort haben zahlreiche Bedürfnisse herausgearbeitet, worunter die folgenden:
- Präventive Unterstützung für Kinder, Jugendliche und Familien, auch im Bereich Schule, um so Obdach- und Wohnungslosigkeit zu vermeiden.
- Entwicklung angemessener Lösungen, die Unterbringung und Begleitung kombinieren, um so den Zugang der jungen Erwachsenen zu sozialen und privaten Wohnungsmarkt zu erleichtern.
- Unterbreitung eines spezifischen „Übergangsansatzes“, der die Besonderheiten junger Erwachsener berücksichtigt und eine Kontinuität zwischen der Hilfe für Jugendlichen und der Hilfe für Erwachsene gewährleistet. Platz für Ausprobieren, bei gleichzeitiger Begleitung und Unterstützung.
- Intensive Betreuung durch eine spezifische Begleitperson, die ihre Arbeit dem Rhythmus des jungen Erwachsenen anpassen kann.
Weitere Aktionen der KBS
Ende Oktober wird die KBS die Durchführung von Zählungen in 10 neuen Gebieten in Wallonien (Tournai, Jodoigne, Wavre, Grez-Doiceau, Ottignies - Louvain-la-Neuve, Chaumont Gistoux, Walhain, Nivelles, Tubize, Rebecq), in der Deutschsprachigen Gemeinschaft und in Flandern (Antwerpen, Boom-Mechelen-Lier, Bezirk Brügge, Midwest, Middenkust, Kempen und Umgebung, Waasland) unterstützen. Diese Erhebungen werden weitere Daten und Einsichten im Bereich Obdach- und Wohnungslosigkeit liefern und so der öffentlichen Hand die Erarbeitung effizienter und zielgerichteter politischer Ansätze ermöglichen.
Des Weiteren fördert die KBS über von ihr verwaltete Fonds Organisationen, die zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten für obdach- und wohnungslose Personen schaffen. So unterstützte der Fonds van Oldeneel tot Oldenzeel 2021 sieben Organisationen in Höhe von 310.000 Euro, um Wohnraum für obdach- und wohnungslose junge Erwachsene zu schaffen. 2022 haben mehrere Wohnungsfonds neun Organisationen mit insgesamt 650.000 Euro unterstützt. Der in der Region Brüssel-Hauptstadt aktive Kornelia-Dirichs-Fonds vergab 2022 außerdem 400.000 Euro an Organisationen, die sich mit den Bedürfnissen von (potenziell) obdach- und wohnungslosen Frauen beschäftigen.