Eine Million Euro für die Forschung im Bereich seltene Schilddrüsenkrankheiten
Der Generet-Preis 2023 für seltene Krankheiten geht an Prof. Dr. Sabine Costagliola, Forschungsleiterin des FNRS und Direktorin des IRIBHM (Freie Universität Brüssel), für ihre Forschung, bei der sie die Technologie menschlicher Organoide zur Modellierung von zwei seltenen Schilddrüsenerkrankungen einsetzt. Der Preis des von der König-Baudouin-Stiftung verwalteten Generet-Fonds wird zum sechsten Mal vergeben. Er ist mit einer Dotierung von einer Million Euro verbunden und somit die renommierteste Auszeichnung im Bereich seltene Krankheiten in Belgien. Die Sachverständigenjury begrüßt den Willen von Prof. Dr. Sabine Costagliola, mit ihren Forschungsarbeiten die Diagnose und die Lebensqualität der von diesen Pathologien betroffenen Patientinnen und Patienten zu verbessern.
Die Schilddrüse spielt eine wesentliche Rolle für das Wachstum und die reibungslosen Abläufe unseres Stoffwechsels. Diese Drüse befindet sich unterhalb des Kehlkopfes und bildet Hormone, die für fast alle unsere Gewebe und Organe eine wichtige Rolle spielen: Gehirnentwicklung, Herz-Kreislauf-Funktion, Stoffwechsel, Wärmeregulation, Menstruationszyklus... .
Unter den Schilddrüsenerkrankungen ist die angeborene Hypothyreose eine seltene Krankheit, von der etwa eines von 3.000 Kindern betroffen ist. Dabei entsteht kein oder zu wenig funktionsfähiges Schilddrüsengewebe. Aufgrund der zentralen Rolle der Schilddrüsenhormone bei der frühen Gehirnentwicklung führt eine unerkannte und unbehandelte Hypothyreose zu geistiger Retardierung und Wachstumsverzögerung. Früherkennung und sofortige Behandlung sind daher von entscheidender Bedeutung, ebenso wie die Mitarbeit der Eltern bei der regelmäßigen und korrekten Verabreichung der Behandlung, die für eine normale kognitive Entwicklung unerlässlich ist. In Ländern mit hohem Einkommen, wie z. B. Belgien, wird eine Früherkennung ab der Geburt organisiert, wodurch eine schnelle Behandlung von Kindern mit Schilddrüsenproblemen möglich ist. In Ländern mit mittlerem oder geringem Einkommen ist dies jedoch nicht der Fall, da keine systematische Früherkennung durchgeführt wird. Bei allen Kindern aus diesen benachteiligten Regionen könnte also ein nicht diagnostiziertes Schilddrüsenproblem vorliegen; Wachsamkeit ist daher weiterhin geboten.
Ursache größtenteils unbekannt
Seit vielen Jahren erforscht Prof. Dr. Sabine Costagliola am Institut für interdisziplinäre Forschung in Human- und Molekularbiologie (IRIBHM) der Freien Universität Brüssel die Mechanismen, die der Entwicklung der Schilddrüse und den Schilddrüsenerkrankungen zugrunde liegen. Sabine Costagliola: „Trotz der Identifizierung zahlreicher an der normalen Entwicklung der Schilddrüse beteiligten Gene sind die molekularen Mechanismen, die Schilddrüsenstörungen verursachen, nach wie vor nur unzureichend erforscht. Gegenwärtig können wir etwa 10 % der Fälle angeborener Hypothyreose erklären. Die große Mehrheit bleibt also unerklärt. Mit meiner Forschung möchte ich begreifen, warum ein Kind ohne Schilddrüse oder mit einer nicht ausreichend funktionierenden Schilddrüse geboren wird.“
Das Labor von Prof. Dr. Sabine Costagliola war übrigens führend bei der Erzeugung von Schilddrüsenorganoiden, d. h. in vitro gezüchteten Mini-Schilddrüsen, die aus pluripotenten Stammzellen von Mäusen und Menschen erzeugt wurden. „Diese Organoide sind fähig, die Entwicklungsstadien der Schilddrüse in vitro nachzubilden. Nach der Transplantation in Mäuse ohne Schilddrüse produzieren sie in vivo Schilddrüsenhormone. Wir können dieses Modell also nutzen, um pathologische Situationen zu untersuchen und verschiedene Hypothesen zu testen, indem wir direkt Zellen von Patienten mit Schilddrüsenerkrankungen verwenden.“
Zwei seltene Schilddrüsenkrankheiten
Dank der finanziellen Mittel des Generet-Preises können Sabine Costagliola und ihr Team die Forschungsarbeiten fortsetzen und diese Humanorganoiden zur Modellierung von zwei seltenen Schilddrüsenerkrankungen nutzen.
Bei der ersten Pathologie geht es um die angeborene Hypothyreose. „Wir werden die dieser Pathologie zugrunde liegenden molekularen Mechanismen untersuchen, indem wir pluripotente Zellen von Patienten mit angeborener Hypothyreose und von eineiigen Zwillingen, die für diese Pathologie diskordant sind, verwenden. So werden wir insbesondere das Material von Zwillingen mit gleichem Erbgut analysieren, von denen jedoch einer eine normal funktionierende Schilddrüse und der andere eine dysfunktionale atrophische Schilddrüse hat. Mithilfe von Schilddrüsenorganoiden, die aus ihren Zellen gewonnen werden, können wir eine in vivo beobachtete Situation in vitro vergleichen und versuchen, die molekularen Mechanismen zu identifizieren, die für die fehlende Schilddrüsenentwicklung bei einem der Zwillinge verantwortlich sind.“
Bei der zweiten Pathologie geht es um das Syndrom der TSH-Resistenz, das durch eine Unempfindlichkeit der Schilddrüse gegenüber dem die Synthese von Schilddrüsenhormonen stimulierenden Hormon TSH gekennzeichnet ist. Mutationen im TSH-Rezeptor sind eine häufige Ursache für dieses Syndrom, aber ein identischer Phänotyp wird auch beobachtet, wenn keine Mutationen im Rezeptor vorliegen. „In Zusammenarbeit mit der Genetikabteilung der Freien Universität Brüssel und der Universität Chicago hat das IRIBHM eine genetische Variante identifiziert, die mit diesem Syndrom in zusammenhängt. Wir versuchen anhand der Verwendung von Organoiden mit dieser Variante die molekularen Mechanismen hinter der Wirkung von TSH auf die Schilddrüse zu verstehen.“
Diagnostische und therapeutische Ambitionen
Prof. Dr. Sabine Costagliola geht es um mehr als um reine Grundlagenforschung. „Dank des Generet-Preises kann ich alle Hypothesen untersuchen und so neuen Diagnoseinstrumenten und, langfristiger, neuen therapeutischen Möglichkeiten den Weg bereiten.“
Ein Leben ohne Schilddrüse oder mit einer dysfunktionalen Schilddrüse ist zwar möglich, bedeutet jedoch die lebenslange Einnahme synthetischer Hormone. Sabine Costagliola: „Eine Behandlung kann eine normale Schilddrüse nie zu 100 % ersetzen. Außerdem verändern sich die Hormone im Laufe des menschlichen Lebens, es bedarf daher kontinuierlich genauester Anpassungen. Für manche Personen finden wir nie die optimale Dosis, und das wirkt sich tagtäglich auf ihre Lebensqualität aus. Man darf sich nicht damit zufrieden geben, dass es den Patientinnen und Patienten mehr oder weniger gut geht, das Ziel muss höher gesteckt werden. Wenn es uns eines Tages gelingt, den Patienten eine funktionsfähige Schilddrüse zu transplantieren, dann würde das eine unglaubliche Lebensqualität für sie mit sich bringen.“
Der Generet-Preis
Der von der König-Baudouin-Stiftung verwaltete Generet-Fonds möchte Belgien zu einem internationalen Pol der Forschung zu seltenen Krankheiten machen. Seit 2018 vergibt der Fonds jedes Jahr eine mit einer Millionen Euro dotierte Auszeichnung an Spitzenforschende, die in einer belgischen Einrichtung für Spitzenforschung im Bereich seltene Krankheiten arbeiten. Dabei gibt der Fonds nicht vor, welche Pathologien zu erforschen sind: Sämtliche seltenen Krankheiten kommen in Frage, wie auch Methoden, die die Forschung zu mehreren Krankheiten voranbringen können. Der Generet-Preis wird in Zusammenarbeit mit dem FNRS und dem FWO vergeben.
Der neue Aufruf des Generet-Fonds läuft bis zum 15. April 2024. Er richtet sich an erfahrene Forschende im Bereich der seltenen Krankheiten und an Forschende mit umfassender Erfahrung in geläufigeren Pathologien, die besonders an seltenen Krankheiten interessiert sind und in diesem Bereich weitgehendere Forschungsarbeiten leisten oder die Forschung beschleunigen möchten. Weitere Informationen.
Die folgenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden bisher mit dem Generet-Preis ausgezeichnet:
• 2018: Prof. Mikka Vikkula (Institut de Duve - UCLouvain), für seine Forschungen über die genetischen Ursachen von Gefäßanomalien;
• 2019: Prof. Dr. Steven Laureys (Coma Science Group - Universität und CHU Lüttich), für seine Forschungsarbeit im Bereich veränderte Bewusstseinszustände, die durch schwere Hirnverletzungen verursacht werden;
• 2020: Prof. Pierre Vanderhaegen (VIB-KU Löwen Zentrum für Gehirnforschung und ULB), für seine Forschungsarbeiten über die Entwicklung des Gehirns und seine Anomalien;
• 2021: Prof. Dr. Rosa Rademakers (VIB-UAntwerpen Zentrum für molekulare Neurologie) für ihre Forschungsarbeit über eine seltene Form von Demenz;
• 2022: Prof. Dr. Ludo Van Den Bosch (VIB-KU Löwen Zentrum für Gehirnforschung), für seine Forschung über die einer seltenen Form von neurodegenerativer Krankheit zugrunde liegenden Mechanismen;
• 2023: Prof. Dr. Sabine Costagliola (IRIBHM-ULB), für ihre Forschung, bei der sie die Technologie menschlicher Organoide zur Modellierung von zwei seltenen Schilddrüsenerkrankungen einsetzt.
Weitere Informationen
Video von Sabine Costagliola, Gewinnerin des Generet-Preises